Dienstag, 28. April 2015, kurz vor 20:00 Uhr in München: Die U-Bahnen sind voller Sicherheitskräfte, denn ein Fußballspiel steht an, aber es gibt auch einige, die wegen anderer Abendaktivitäten unterwegs sind.
Unter anderem Lazy Literature, denn der C.H. Beck-Verlag hat zu einer Podiumsdiskussion geladen. Im Literaturhaus soll das Thema „Russland verstehen“ anhand des gleichnamigen Buches von Gabriele Krone-Schmalz erörtert werden.
Wer nun glaubt, dass wegen des Fußballspiels der Saal leer bleiben würde, hat sich getäuscht. Die Veranstaltung war bis auf den letzten Platz ausverkauft, und ich hatte Glück, dass ich meine Karte noch abholen konnte, denn es standen noch weitere Interessierte an, die auf reservierte und nicht abgeholte Karten spekulierten.
Etwas abgekämpft kam ich im Saal an, denn der befand sich im dritten Stock und der Aufzug hatte mir leider seinen Dienst versagt. Es war fast jeder schon drinnen und wartete auf den Anfang. Bei der ersten Umrundung des Saals wurde mir freundlicherweise ein Platz in der dritten Reihe angeboten, so dass ich alles wunderbar miterleben konnte.
Danach begann es sofort. Bei der Vorstellung stellte sich heraus, dass sogar der Generalkonsul der Ukraine anwesend war. Teilnehmer an der Diskussion waren die erwähnte Gabriele Krone-Schmalz und der Historiker und Autor Jörg Baberowski, dazu als Moderator Niels Beintker vom Bayerischen Rundfunk.
Anfangs fasste Krone-Schmalz die Thesen ihres Buches zusammen und gab einen Überblick über den Inhalt, der den Leser in den sechs Kapiteln erwartet. Für sie sei „Verstehen“ nicht gleichzusetzen mit Verständnis oder sogar Einverständnis, wie manche Medien berichtet hätten, stellte sie sofort klar. Durch den Abend hindurch betonte sie immer wieder, wie wichtig die Ausdrucksweise in Ton und Wortwahl sei, was vor allem Journalisten beachten müssten.
Krone-Schmalz erzählte ernst, aber routiniert. Ihre Stimme war dabei glasklar zu verstehen, und sie trat nicht nur als Frau auf, die ihr Thema gut im Griff hatte, sondern auch als jemand, der sich leidenschaftlich für die Sache an sich einsetzt. Ihr waren einige Punkte besonders wichtig, wie die Betonung, dass es auch NGOs in Russland gäbe, die bereits wunderbar funktionieren würden. So solle man nicht aus Außenstehender glauben, dass es in Russland oder der Ukraine keine eigenen Bemühungen gäbe, das Leben der Bevölkerung besser zu machen, und außerdem nicht davon ausgehen, dass man es besser wisse als die Ansässigen, wie man ihnen das Leben erleichtern könne.
Jörg Baberowski schloss sich in weiten Teilen ihren Argumenten an. Auch er erwies sich als spannender Vortragender, dem man stundenlang hätte weiter lauschen können. Seine Erzählungen wurden durch eigene Erlebnisse gewürzt, die zwischendurch zum Lachen brachten – mitunter aber auch selbiges im Ansatz erstickten, wenn man sich genauer darüber Gedanken machte, weshalb die russische Bevölkerung verschiedene Punkte anders sieht, als er es gewohnt ist, wenn er seine Freunde dort besucht.
Für ihn kommt jeder Mensch von einem historischen Hintergrund und besitzt eine Vergangenheit, die ihn nicht nur als Mensch kennzeichnet, sondern auch als Teil eines Volkes. Daher beruft er sich – keine Überraschung, da der Mann Historiker ist – auf die Geschichte Russlands, um verschiedene Punkte der aktuellen Diskussion zu erklären.
Ich gebe ehrlich zu, dass ich gebannt war von den beiden Vortragenden, die sich so leidenschaftlich für ein Verstehen der Grundlagen des Konflikts einsetzten. Durch Niels Beintker kam immer wieder neues Leben in die Unterhaltung, bei der von vornherein das Publikum gebeten worden war, nicht in einen Dialog zu treten. Er stellte Fragen, fasste zusammen und schloss am Ende die Runde.
Davor war es aber noch einmal ein besonderes Vergnügen, Baberowski dabei zu lauschen, wie er die Aufgabe eines Historikers zusammenfasste: Es gehe um die Unvoreingenommenheit als Betrachter, der sich fragen sollte, weshalb manche Menschen etwas anders machen als man selbst. Wenn man Quellen betrachte, solle man lernen für die Gegenwart und nicht von vornherein verurteilen. Denn obwohl jeder eine ethische und moralische Haltung habe, solle man sie nicht dazu benutzen, dem Verstehen im Weg zu stehen und dadurch sämtlichen Dialog zunichte zu machen.
Dadurch wurde die Podiumsdiskussion nicht nur eine spannende Reise in die Vergangenheit und Gegenwart Russlands und des Konflikts, der momentan vorherrscht, sondern es war zugleich ein intensiver Appell dazu, sich selbst für ein Verstehen zu öffnen, das die historischen Wurzeln des Gegenübers nicht verleugnet und zugleich die Moralkeule hintanstellt, bis man verstanden hat, weshalb verschiedene Handlungen so und nicht anders vollzogen wurden.
Um einiges weiser und informierter traten schließlich alle die Heimreise an, aber diese Diskussion wird noch viele Gedanken nach sich ziehen, die dabei helfen könnten, auch im eigenen Alltag etwas besser auf das eigene Verstehen vor dem Urteilen zu achten.