Christian Nürnberger, 2015Christian Nürnberger fordert mit seinem neuen Buch zum Handeln auf. Dank der letzten, bewegten Jahre hat sich für das Interview mit Lazy Literature einiges an Gesprächsstoff ergeben. (Foto: Copyright Christian Nürnberger)

Vielen Dank, Herr Nürnberger, dass Sie sich die Zeit für das Interview nehmen.

Sie schreiben bereits seit einiger Zeit Bücher, während Sie auch Beiträge für Zeitungen und Magazine verfassen. Was gefällt Ihnen an den unterschiedlichen Arbeitsweisen für längere Texte und für kürzere am besten?

Bei den kurzen Texten hat man das schnelle Erfolgserlebnis: heute geschrieben, morgen in der Zeitung, in einer Woche im Magazin. Bei langen Texten hat man Zeit, kann gründlich nachdenken, schreibend klären, was lange unklar war, Komplexität durchdringen, sie reduzieren und verständlich rüberbringen.

Sie haben auch mit Ihrer Ehefrau zusammen geschrieben – u.a. „Der Erziehungsnotstand“. Wie haben Sie die Zusammenarbeit gestaltet und was gab es dabei für besondere Herausforderungen?

Es sind inzwischen schon drei gemeinsame Bücher. Beim ersten Buch stand unsere Ehe auf dem Spiel. Wir hatten ziemlich viel gestritten. Es passte mir nicht, dass meine Frau in meine Texte eingriff, und ihr passte nicht, dass ich in ihre eingriff. Wir mussten uns erst „zusammenraufen“. Beim zweiten Buch ging’s dann schon besser. Jetzt kannte man die Empfindlichkeiten des anderen, und wenn es etwas gab, worauf wir uns partout nicht einigen konnten, ließen wir es eben weg. Beim dritten Buch hatten wir Routine, und es schrieb sich wie von selbst. Wir planen gerade das vierte, wollen aber das Thema vorläufig noch für uns behalten.

2010 haben Sie den Deutschen Jugendliteraturpreis erhalten. Wie war das für Sie, und wie hat sich das auf Ihre weitere Arbeit ausgewirkt?

Das war vor allem eine große Überraschung. Es war ja erst mein zweites Jugendbuch, und eigentlich hatte ich gedacht: Jugendbuch kann ich nicht, ich kann nur für Erwachsene. Dann bekam ich diesen Preis, und der sagte mir: Doch. Du kannst es.

Daher wird es bald ein drittes geben. Über Luther. Ich werde mich also hin und wieder auch an neuen Jugendbüchern versuchen, das ist die Auswirkung des Literaturpreises.

2013 haben Sie für die SPD für den Bundestag kandidiert. Was für Erkenntnisse haben Sie daraus gezogen?

Die wesentlichste Erkenntnis war, dass es keinen Sinn mehr hat, noch länger darauf zu warten, dass die Politiker die großen, drängenden Probleme – Klima, Umwelt, Arm und Reich, Integration, Multikulti etc. – lösen. Die Lösung dieser Probleme erfordert langfristige Strategien. Politiker denken aber immer nur bis zur jeweils nächsten Wahl. Sie brauchen schnelle Erfolge und notfalls Scheinerfolge. Vor allem: Ihr primäres Ziel ist nicht die Lösung der Probleme, sondern ihre Wiederwahl. Machtgewinnung, Machterhalt, Machterweiterung haben oberste Priorität. Dafür gehen 80 bis 90 Prozent ihrer Arbeitszeit drauf. Der Rest reicht gerade noch, um von Krisenherd zu Krisenherd zu eilen und die Brände zu löschen.

Die zweite wichtige Erkenntnis ist: Parteien wären eigentlich dringend darauf angewiesen, sich personell zu erneuern mit Menschen, die auf ein Leben außerhalb der Politik zurückblicken und für frischen Wind sorgen. Theoretisch sehen sie das auch ein. Aber wenn’s dann praktisch wird, wenn plötzlich wie aus dem Nichts so einer wie ich daherkommt, ein normaler Bürger, der auf ein gelebtes Leben außerhalb der Politik zurückblickt, an dessen Leben sich ablesen lässt, wofür er steht, was seine Werte sind – dann verrammeln diese Parteien alle Fenster und Türen, um die Konkurrenz um die zu vergebenden Pöstchen klein zu halten. Da käme ja das sorgsam austarierte Machtgefüge der etablierten Seilschaften durcheinander, die seit Jahren und Jahrzehnten miteinander auskungeln, was läuft. Deshalb versperren die Parteien Außenseitern und Quereinsteigern den Weg. Und schaufeln sich damit langfristig ihre eigenen Gräber. Aber kurzfristig haben sie ihre Ruhe. Mich haben sie auf einen aussichtslosen hinteren Listenplatz gesetzt, darum lebe ich jetzt wieder in Mainz und kann ihre Kreise in der fränkischen SPD nicht mehr weiter stören.

Daraus folgt die dritte Erkenntnis: Wir Bürger müssen die großen Probleme selber lösen, und zwar lokal vor Ort, auf vielfältige Weise, und billiger und effizienter als die staatlichen Bürokratien. Wie das geht, kann ich hier leider nicht ausführen, das würde den Rahmen dieses Interviews sprengen. Aber mein Buch enthält zahlreiche Beispiele dafür, wie man als Einzelner oder als kleine Gruppe etwas für die Umwelt, das Klima, den Frieden, die Integration, Sozialhilfe, Gewaltprävention und für den Tierschutz tun kann, sei es durch seine Konsumentscheidungen, sei es durch direktes Engagement, Aufklärung, Bewusstseinsbildung oder Mitarbeit in interessanten Hilfsprojekten. Man kann sich gegen die Datenschnüffelei im Internet wehren, man kann sich anderer Suchmaschinen als Google bedienen, man kann seinen Amazon-Account kündigen und auf diese Weise dafür sorgen, dass Technik wieder dem Menschen dient und er über die Technik herrscht statt umgekehrt. Und wenn es erst mal eine kritische Masse von Bürgern gibt, die sich ihrer Möglichkeiten bewusst werden – man braucht dafür keine Zweidrittel-Mehrheit, es genügen schon fünf bis zehn Prozent – dann wird es auch für die Politiker wieder leichter, sich der Machtsphäre der milliardenschweren Lobbyisten zu entziehen und wieder mehr auf den Bürger zu hören.

Christian Nürnberger – Die verkaufte DemokratieSie haben in Ihrem aktuellen Buch „Die verkaufte Demokratie“ die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten drei Jahrzehnte beleuchtet. Wie sind Sie bei der Recherche vorgegangen und wie empfanden Sie die Arbeit an dem Werk?

Ich schöpfte im Wesentlichen aus meinem eigenen politischen Erleben, meinen Einsichten, Reflexionen und Erinnerungen, die ich durch Literaturrecherche – Bücher, Zeitungen, Zeitschriften – härtete. Die Arbeit an dem Buch war bisher die anstrengendste. Ich hatte vor drei Jahren begonnen, dann musste ich unterbrechen, weil mir die Bundestagskandidatur dazwischen kam, danach war viel passiert, und noch mehr ist im Jahr 2014 passiert, sodass ich ständig am Umschreiben, Kürzen, Erweitern, Aktualisieren war, und als ich 640 Seiten hatte, doppelt so viel als geplant und vereinbart, hörte ich einfach auf und begann zu kürzen. Insgesamt aber hat sich die Arbeit an dem Buch schwer aufs Gemüt gelegt. Vieles von dem, was ich vor drei Jahren beschrieb, hat sich im Verlauf dieser Jahre verschlimmert, verschärft und mit anderen Sorgen und Problemen verschränkt.

Als ich mit dem Buch begann, war ich eigentlich noch recht optimistisch. Ausgangspunkt war der Gedanke: Ich möchte, dass meine Kinder und deren Generation, wenn sie mal so alt sind wie ich heute bin, im Rückblick auf ihr Leben dasselbe sagen können wie ich: nämlich nie etwas anderes erlebt zu haben als Frieden und Freiheit in Wohlstand. Die Herausforderung lautet also: den heutigen, seit rund 70 Jahren währenden Zustand um weitere 70 Jahre verlängern, um ihn für unsere Kinder zu erhalten, möglichst zu verbessern und ihn möglichst in andere, heute benachteiligte Regionen auszudehnen.

Meine eigenen Kinder glauben, dass sie eines Tages gefahrlos ums ganze Mittelmeer herumfahren oder -wandern können und dabei durch eine einzige Zone der Freiheit kommen, in der Menschen unterschiedlichster Kulturen friedlich und freundlich miteinander leben und arbeiten. Schon vor drei Jahren war das nichts weiter als ein Traum, eine Utopie. Heute sind wir der Erfüllung dieses Traums ferner denn je. Und ein großer Teil meines Buches beschreibt die große Entfernung und die Entwicklungen, die uns jeden Tag noch immer weiter davon wegbringen. Vor drei Jahren wussten wir noch nichts von der Krim-Annexion, dem Ukraine-Krieg, dem Islamischen Staat, den Dschihadisten, nichts von Pegida und den weltweiten Erfolgen der Rechtspopulisten, Nationalisten, Antisemiten und Hetzern. Aber trotzdem habe ich mir den Traum meiner Kinder zu eigen gemacht, und ich glaube weiterhin daran, dass er realisierbar ist. Für dieses Ziel schrieb und schreibe ich; und was geschehen muss, um eine Trendumkehr zu schaffen und der Realisierung des „Mittelmeerumfahrungsprojekts“ näherzukommen, habe ich in dem Buch aufgeschrieben.

Gibt es Bücher, die Sie zur Entspannung lesen? Falls ja, welche Titel nehmen Sie immer wieder gerne zur Hand?

Ich lese hauptsächlich, was mir meine Frau empfiehlt, worauf ich durch Rezensionen neugierig gemacht werde, und was Freunde und Bekannte empfehlen. Gerade eben habe ich mit Vergnügen „Alles über Sally“ von Arnold Geiger gelesen und mit noch größerem Vergnügen „Vaterjahre“ von Michael Kleeberg. Wenn ich Zeit und Muße habe, lese ich auch gern zum zweiten oder dritten Mal einen „Großen“ – Kleist, Fontane, Dostojewski, Tolstoj, Thomas Mann, Schnitzler, Joseph Roth. In letzter Zeit allerdings, so muss ich gestehen, habe ich viel Zeit mit diesen berühmten TV-Serien verbracht – Breaking Bad, Homeland, The Wire, Borgen, Mad Men, Sopranos und so weiter, bereue aber keine Sekunde.

Was möchten Sie den Lesern von Lazy Literature noch ans Herz legen?

Sie sollen lesen, lesen, lesen, aber ihre Bücher nicht bei amazon bestellen, sondern wenn’s irgend geht, im lokalen Buchhandel. Überhaupt sollen sie regionale und Ökoprodukte bevorzugen, und noch besser wäre, wenn sie schafften, was ich wohl in meinem Leben nicht mehr schaffen werde: Veganer werden oder wenigstens Vegetarier.

Zu guter Letzt: Es gibt heute eine neue Front. Diese neue Front verläuft nicht mehr zwischen Nationen und Blöcken, nicht mehr zwischen Männern und Frauen, nicht zwischen den Religionen, nicht zwischen Arm und Reich, Nord und Süd, und nicht zwischen den Kulturen, sondern sie verläuft mitten durch diese Sektoren hindurch und trennt die tolerante, demokratische, emanzipierte, multikulturelle Zivilgesellschaft von den Machos der Nationalisten, Homophoben, Misogynen, Orthodoxen, Dschihadisten und machtgeilen Dinosauriern der Politik, von Putin, von Erdogan, von Xi Jinping, von US-Politikern der Sorte George Bushs, von Assad und allen orientalischen und afrikanischen Despoten. In den meisten Staaten dieser Welt sind die Angehörigen der Zivilgesellschaft eine bedrohte Minderheit, in den westlichen Demokratien werden sie bedrängt und bekämpft, daher ist es an der Zeit, den Kampf aufzunehmen, sich zu organisieren und zu solidarisieren.

Vielen Dank!

Ich danke auch.