Chelsea Cain ist die Autorin der brillanten Thriller-Serie um Gretchen – einer der großartigsten und zugleich grauenhaftesten Serienkillerinnen aller Zeiten. Sie werden Gretchen lieben und schaudernd daran denken, was sie als nächstes tun könnte. (Foto: Copyright Laura Domela)

Danke, dass Sie sich die Zeit für das Interview nehmen.

Ihre Gretchen-Serie ist ein enormer Erfolg. Um ehrlich zu sein, kann ich mich an keinen genialeren und zugleich entsetzlichen weiblichen Killer erinnern. Wie haben Sie sie entwickelt? Basiert sie auf einem wahren Kriminalfall?

Gretchen ist ein Produkt meiner verdrehten Vorstellungskraft. Ich habe viel über weibliche Serienkiller recherchiert, bevor ich zu schreiben begann, und ehrlich gesagt mochte ich nichts von dem, was ich fand. Frauen töten normalerweise nicht gewalttätig. Wir köcheln viel eher jahrelang vor uns hin und töten dann mit Gift oder einem wohl platzierten Kissen. (Wir kommen auch viel eher damit davon.) Zudem sind wahre Psychopathen, obwohl sie meist Charmeure sind, nicht wirklich komplex. (Ich bitte jeden Psychopathen, der das hier liest, um Verzeihung.) Ich wollte eine wunderschöne, charismatische, kluge Killerin, die gewaltsam mordet wie ein Mann, weil sie es mag. Daher erfand ich sie.
Aber die Beziehung zwischen Gretchen und ihrem Detective-Verfolger Archie Sheridan basiert lose auf einem Fall aus dem Pazifischen Nordwesten, wo ich aufwuchs. 1982, als ich zehn Jahre alt war, fand die Polizei drei Frauen, die vergewaltigt und getötet worden waren. Über die Jahre hinweg fanden sie immer wieder mal Leichen. Sie gaben dem Killer den Namen „The Green River Killer“. Sie entwickelten eine Task Force, um ihn zu jagen. Ungefähr jedes Jahr fanden sie ein oder zwei Leichen. Als ich ein Kind war, war der „Green River Killer“ das Monster unter dem Bett in der Nacht oder in der nächsten dunklen Ecke verborgen oder im Schrank versteckt. Er war derjenige, den wir benutzten, um uns gegenseitig bei Pyjama-Parties Angst einzujagen. Nach einer Weile wurden keine Leichen mehr gefunden. Und die Task Force schrumpfte bis auf einen einzigen Mann – Detective Tom Jensen, der fast seit Beginn der Task Force angehört hatte und seine Karriere auf diesen einen Fall konzentriert hatte. Dann – zwanzig Jahre, nach den ersten Leichen – fingen sie ihn endlich. Sein Name war Gary Ridgway. Er war fast von Beginn an ein Verdächtiger gewesen, daher kannten die Cops, die all die Jahre in der Task Force gearbeitet hatten, ihn eine gefühlte Ewigkeit. Ridgway schlug ihnen das gleiche Geschäft vor, das auch Gretchen in „Furie“ (Heartsick) macht: Um die Todesstrafe zu umgehen, stimmte er zu, ihnen zu erzählen, wo die weiteren Leichen vergraben wären. Er wurde des Mordes an 49 Frauen überführt und behauptet, die doppelte Anzahl getötet zu haben. Diese Cops – Jensen eingeschlossen – mussten ihn also immer und immer wieder befragen und versuchen, ihm die Informationen zu entlocken. Zu einem bestimmten Punkt lebten sie alle gemeinsam in einem „Safe House“, einem sicheren Ort, zusammen.

Ich sah einige Aufnahmen, wie einer der Cops Ridgway interviewt und die beiden miteinander lachten wie alte Freunde im Pub. Und auf gewisse Weise waren sie alte Freunde. Sie hatten 20 Jahre auf verschiedenen Seiten des gleichen Falles verbracht. Sie teilten eine Geschichte miteinander – eine Geschichte, die sie noch nicht einmal mit ihren Familien teilen konnten. Aber zur gleichen Zeit gingen in diesem Raum all diese verschiedenen Schichten von Manipulation vor sich. Es gab diese hohen Einsätze. Und ich dachte mir sofort: Wäre es nicht spannend, wenn der Killer eine Frau wäre? Weil das diese bereits wirklich komplizierte Beziehung mit einer sexuellen Spannung versehen würde. Und das war der Moment, in dem ich mir Archie und Gretchen ausdachte. Am nächsten Tag begann ich damit, „Furie“ zu schreiben.

Gretchen behält ihren Status, in dem sie über allen steht, durch die Erzählung aus Archies und Susans Sicht. Dadurch erhält sie eine Art Nimbus. War das geplant und werden wir jemals ein Buch aus ihrer Sicht lesen?

Oh, es war geplant. Ich begriff schon früh, dass ich nie Gretchens Sichtweise vorlegen könnte, weil das, was sie als Charakter interessant macht, der Punkt ist, dass wir nie genau wissen, was sie denkt oder was sie antreibt. Ihre Motivation ist ein Rätsel. Mag sie Archie? Was plant sie? Was ist ihr nächster Schritt? Wenn wir jemals in ihren Kopf sehen können, wäre dieses Mysterium verloren und die Spannung würde verschwinden. Ich mag auch die Tatsache, dass wir als Leser versuchen, sie zu durchschauen, wie es auch Archie tut. Ich will sie nicht erklären. Ich weiß, dass die Leser mehr über sie wissen wollen – und ich werde Stücke von Informationen über sie herausrücken, glauben Sie mir. Aber ich will nie ihre Sichtweise nutzen oder – noch schlimmer – die Vorgeschichte „Gretchen als Kind“ schreiben. Ihre Stärke ist, dass sie weder Rechtfertigungen noch Entschuldigungen gibt. Und ihre Macht steckt darin, dass sie eine Meistermanupulatorin ist. Aber sobald wir in ihren Kopf sehen können, verliert sie diese Macht. Sie kann uns nicht länger anlügen. Und das werde ich ihr nicht rauben.

Archie ist ein sehr gequälter Charakter. Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie ihn geschrieben haben?

Ich liebe Archie. Und ich fühle mich schlecht, dass ich ihn so hart anpacke. Manchmal tue ich ihm etwas schreckliches an und ich fühle, wie er zu mir hochsieht, seufzt und sagt: „Wirklich? Schon wieder? Hast du mir nicht genug angetan?“ Aber er bestraft sich auch selbst. Er stürzt sich Hals über Kopf in die Gefahr. Also bin ich nicht komplett schuld.

Wie recherchieren Sie für Ihre Romane?

Ich lese viele forensische Pathologie-Bücher. Ich bin eine Meisterin im Googeln. Ich spreche mit den Leuten. Aber ich erfinde auch Dinge. Wirkliche Mordermittlungen ergeben ziemlich langweilige Bücher. Daher erlaube ich mir Freiheiten. Ich hoffe, dass ich genug Details finden kann, die sich absolut real anfühlen, dass der Leser mir in die fantastischeren Aspekte folgt. Ich interessiere mich mehr für Charaktere und Beziehungen als für Polizei-Prozedere oder Protokoll. Aber ich bemühre mich. Ich arbeite vor allem daran, Portland für den Leser real wirken zu lassen. Es ist eine so großartige Stadt und ein so großartiger Rahmen für die Handlung. Ich habe großes Glück, dass ich hier leben darf – weil es sehr viel schwerer wäre, die Bücher hier anzusiedeln, wenn ich es nicht tun würde. Seltsamerweise muss ich, je beliebter die Bücher werden, umso vorsichtiger mit den Details bei bestimmten Orten sein. In „Totenfluss“ (The Night Season) gibt es eine erschreckende Szene bei einem Haus und ich musste ihm eine Adresse geben, weil es für die Handlung wichtig war. Ich war sehr vorsichtig dahingehend, dass das Haus an einem Block steht, in dem es nur Geschäfte gibt. Der Rest der Nachbarschaft ist eine Wohnsiedlung und das Haus, das ich beschreibe, ist tatsächlich eines, das einige Blocks davon entfernt ist. Aber ich wollte nicht, dass ein armer Hausbesitzer eines Morgens aus seinem Fenster blickt und einige Leute mit Ausgaben meiner Bücher in der Hand um seinen Garten herumstehen sieht.

Erschrecken Sie sich manchmal selbst, wenn Sie blutige Szenen schreiben?

Niemals. Ist das schrecklich? Hier ist noch etwas schlimmeres: Ich liebe die blutigen Szenen. Ich habe so viel Spaß daran, sie zu schreiben. Ich grinse und kichere und reibe meine Hände, wenn ich sie schreibe. Aus einer Erzählperspektive verlangsamt sich alles und reich an Details. Zusätzlich gibt es eine unglaubliche Spannung, daher läuft das Schreiben im gleichen Rhythmus. Zudem bin ich der Chef. Niemand tut etwas, ohne dass ich es nicht bestimme. Daher ist es, solange ich die Aufsicht über die Metzelei habe, nicht wirklich gruselig für mich. Auf der anderen Seite stolpere ich bei meiner Recherche mitunter über wahre Verbrechensdetails, die mich mitunter verfolgen. Es ist das wahre Verbrechenszeug, das ich erschütternd finde – mehr als jede Fiktion. Die verqueren Dinge, die die Menschen sich in der realen Welt gegenseitig antun, sind weitaus gruseliger als alles, was man jemals in einem Roman lesen könnte.

In der TV-Serie „Luther“ gibt es eine Frau, die nicht so viele Leute wie Gretchen ermordet hat, aber in Charakter und Sichtweise auf die Welt ähnlich ist. Kennen Sie die Serie? Und sehen Sie sich Krimis an?

Ich liebe „Luther“. Ich werde deswegen ständig gefragt. Ich schreibe über einen beharrlichen und besessenen Cop und seine komplizierte Beziehung zu einer wunderschönen Serienkillerin. Luther hat eine komplizierte Beziehung zu Alice, eine wunderschöne Killerin, die sehr Gretchen-esk ist. Viele Leute sehen eine Spiegelung zwischen „Luther“ und meinen Büchern. Ich nehme das als Kompliment.

Und ja, ich liebe Krimi-Serien (oder „Cop Shows“, wie wir in den Staaten sagen). Besonders britische. Sie machen einige wirklich großartige dunkle und grausige Krimi-Sachen da drüben. Es gibt viele spärlich beleuchtete Gassen und Mäntel und brütende Stimmungen und mit Blut bespritzte Wände – genau mein Ding. Ich war ein großer Fan von „Hautnah – Die Methode Hill“ (Wire in the Blood) und davor von „Touching Evil“ (Touching Evil). Ah, und von „Für alle Fälle Fitz“ (Cracker). Die Liste ist lang. In Wirklichkeit glaube ich, dass ich einfach ein Fan des englischen Akzents bin.

Was lesen Sie in Ihrer Freizeit?

Viele Sachbücher. Derzeit habe ich eine Bill Bryson-Sucht. Ich habe fünf Bryson-Bücher in den vergangenen zwei Wochen gelesen! Ich mag ein Buch, das klug und lustig ist und bei dem man auf dem Weg hindurch etwas lernen kann. Eines meiner absoluten Lieblingsbücher ist Mary Roachs Buch „Die fabelhafte Welt der Leichen“ (Stiff). Es handelt davon, wie wir mit Toten umgehen – Organspenden, Crashtest-Dummies, etc. Es ist das witzigste Buch über Leichen, das Sie jemals lesen werden.

Was Fiktion angeht, lese ich alles mögliche: literarische Fiktion, klassische Fiktion, Klugscheißer-Fiktion. Ich lese nicht so viele Thriller, wie die Leute glauben – sie ergeben ungefähr 10 Prozent meiner Literaturnahrung. Ich LIEBE Val McDermids Tony Hill/Carol Jordan-Bücher. Ich habe meinen ersten Thriller „Furie“ wegen ihnen geschrieben. Ich war schwanger und auf einem Thriller-Trip und habe die ersten drei in ihrer Serie gelesen. Es gab kein viertes, also dachte ich: Okay, dann schreibe ich eben mein eigenes Buch. (Daran sind die Hormone schuld, wenn man schwanger ist.) Außerdem stehe ich auf das Privatdetektiv-Genre von Chandler und Hammett bis hin zu Robert B. Parker. Ich habe eine Schwäche für romantische Besserwisser.

Hier in Deutschland wird „Totenfluss“ (The Night Season), der vierte Teil, als Taschenbuch im Mai 2012 veröffentlicht. Was dürfen Ihre Leser von diesem Buch erwarten?

Ich habe „Totenfluss“ geschrieben, damit endlich meine Großmütter eines meiner Bücher lesen können. Es ist voller Spannung, die den Leser die Seiten umblättern lässt, aber auch viel weniger blutig als die ersten drei. Es bietet auch einen guten Einstieg für neue Leser – man muss dafür nicht die ersten drei Bücher gelesen haben. Das ist ein Buch für all die Leute, die eines meiner Bücher in die Hand genommen haben, denen ein Schauder über den Rücken gelaufen ist, deren Magen rebelliert hat und die sich dann dagegen entschlossen haben, es zu kaufen.

Portland wird überflutet und ein Serienkiller läuft frei herum, was Archie und seine Reporterfreundin Susan Ward beschäftigt hält. Aber Gretchen bleibt im Hintergrund für einen Großteil des Buches. Es ist auf gewisse Art Archies und Susans Chance, zu glänzen. Ich dachte, es wäre mal nett, ihnen ein wenig Zeit für sich selbst zu geben. Allerdings schweben sie die meiste Zeit in Lebensgefahr, daher vermute ich, dass sie nicht besonders viel Spaß haben. Es gibt auch einen historischen Aspekt bei „Totenfluss“. Ein Teil von Portland – eine Stadt, die sich Vanport nannte – wurde von einer realen Flut 1946 weggespült. Die gesamte Stadt wurde mitgerissen und keinerlei Strukturen blieben übrig. Das präsentiert Archie und Susan einen ungeklärten Fall, dem sie sich stellen müssen. Ich war schon lange an der Geschichte von Vanport interessiert, daher machte es Spaß, dass ich sie hier ein wenig erforschen konnte, und ich hoffe, dass die Leser diesen Teil der Geschichte interessant finden werden. Wie gesagt, ich lerne gerne etwas, wenn ich lese, daher ist das mein Versuch, den Lesern einige nützliche Details zu vermitteln, die sie auf Cocktailparties ausgraben können.

Im August 2012 wird „Kill You Twice“, der fünfte Teil, in den Staaten erscheinen. Was für Pläne haben Sie für weitere Bücher über Gretchen?

Gretchen kehrt mit Flaire in „Kill You Twice“ zurück. Ehrlich, ich habe sie schrecklich vermisst, als ich „Totenfluss“ schrieb. In „Kill You Twice“ wird Archie in einen Fall verwickelt, der Gretchens Vergangenheit beleuchtet – dadurch erhalten die Leser, die mehr über sie wissen wollen, endlich ein paar Hinweise. Und es gibt einige wirklich gute, kernige Szenen zwischen den beiden. Ich arbeite derzeit an Buch sechs und plane über Archie und Gretchen zu schreiben, bis mein Verleger mich zum Aufhören bringt. Selbst dann, denke ich, werde ich diese Bücher schreiben – mein Verleger wird sie einfach nicht mehr herausbringen, und ab einem gewissen Zeitpunkt werde ich hier in meinem Büro unter Bergen von Druckerpapier ersticken. Ich liebe diese Charaktere so sehr – ich will weiter beobachten, was sie tun. „Kill You Twice“ wurde nach Deutschland verkauft, daher halten Sie die Augen offen.

Was für Romane – abgesehen von Thrillern – wollten Sie schon immer mal schreiben?

Ich bin auf die Thriller im reifen Alter von 43 Jahren gestoßen, also relativ spät. Ich hatte eine Denkschrift veröffentlicht und mehrere humorvolle Bücher, bevor ich es mir in den Kopf setzte, „Furie“ zu schreiben. Daher habe ich diese anderen Bücher aus meinem System geschrieben. Ich sehne mich nicht wirklich danach, etwas anderes zu schreiben. Ich liebe es einfach, diese Serie zu schreiben. Es ist der beste Job der Welt. Das einzige, was ich bedaure, ist, dass ich diese Bücher nicht schneller schreiben kann.

Danke für Ihre Zeit. Ich bin bereits sehr gespannt auf den vierten Teil von Gretchen – und vielleicht kann ich dann nicht abwarten und werde mir den fünften Teil im August besorgen.

Danke! Großartige Fragen.

Das Originalinterview ist hier zu finden.