Anja Marschall hat sich mit „Fortunas Schatten“, einem historischen Kriminalroman, der im 19. Jahrhundert in Glückstadt spielt, einen Namen gemacht. Nun ist „Das Erbe von Tanston Hall“, ein Cornwall-Krimi, erschienen und die umtriebige Autorin hat schon einige neue Projekte in Planung. (Foto: Copyright Anna Marschall)
Sie sagten mal, dass Ihnen, seit Sie selbst schreiben, die Leichtigkeit beim Lesen der Bücher anderer verloren gegangen ist. Haben Sie inzwischen eine Lösung für das Problem gefunden und welches war das letzte gute Buch, das Sie gelesen haben?
Die Lösung ist mein Mann. Er liest und liest und liest und sagt mir dann, welche Bücher für mich geeignet sind. Das letzte von mir gelesene Buch war „London Killing“ von Oliver Harris. Ich bin über das Buch gestolpert, weil mein nächstes Buch „London Calling“ heißen soll – wenn es nach mir geht. Doch der Verlag hat da ja auch noch ein Wörtchen mitzureden. 😉 Und: das Buch hat mir gut gefallen, obwohl ich eigentlich nicht so der Thrillertyp bin.
Sie haben in Großbritannien und Irland gelebt. Welches ist Ihr absoluter Lieblingsort, an den es Sie immer wieder hinzieht?
In meiner Zeit in London hatte ich schöne Momente im Hampstead Heath. Einem riesigen Park im Norden der Stadt, wo im Sommer klassische Open Air-Konzerte aufgeführt werden. Insbesondere Kenwood House, ein wunderschönes, fast kitschiges Herrenhaus, hat es mir angetan. Ich saß an einem verregneten Nachmittag alleine an einem der Tische und beobachtete, wie eine Schar frecher Spatzen direkt vor meiner Nase meinen Kuchen auffutterten. Einer sprang auf meine Hand und … hihi, egal. Ich bin auch gerne in der National Gallery, denn nur dort gab es damals im Keller einen „richtigen“ Filterkaffee. Übrigens wird Hampstead Heath in meinem nächsten Krimi auch eine Rolle spielen.
Im Südwesten Irlands, nahe Glengarriff, gibt es einen großen Felsen, der halb im seichten Wasser der Bucht liegt. Dort habe ich viele, gedankenverlorene Stunden verbracht, auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Ich war gerade mal 18. Achja, lange her.
Wie sind Sie auf die farbenfrohe Gestalt von Luna gekommen, die in „Das Erbe von Tanston Hall“ einen schönen Gegensatz zu Kate Cole, der Heldin, darstellt?
Ja, Luna, sie ist der Liebling aller Leser. Mein Liebling ist sie übrigens auch. Sie ist ein Teil von mir, den ich manchmal rauslasse, der aber im realen Leben für sehr viel Verwirrung sorgen kann. 😉 Ich bin aber auch ein wenig wie Kate. Ich denke, das Team der beiden Frauen funktioniert so gut, weil jede auf ihre Art extrem ist. Luna, die Flippige und Kate, die Ruhige. Die Kombination machts.
Was an Lesungen gefällt Ihnen am besten?
Ich liebe Lesungen sehr! So dicht ist ein Schriftsteller bzw. eine Schriftstellerin sonst niemals am Leser dran. Normalerweise sitzen wir in unseren Arbeitszimmern und schreiben, schreiben, schreiben. Manchmal kommen Kommentare zu den Büchern über das Internet, auch öfter mal ein Artikel in der Zeitung, ein oder zweimal im Jahr trifft man sich mit Kollegen und Kolleginnen auf den Buchmessen. Doch der Leser? Von Auge zu Auge? Den bekommt der Autor nur auf seinen Lesungen zu sehen.
Lesungen sind „sichtig“. Durch sie kann sich auch die eigene Sicht auf das eigene Buch verändern, habe ich gemerkt. Beispielsweise bei meinem ersten Buch „Fortunas Schatten“: Die Leser waren sehr daran interessiert, ob die beiden Protagonisten – Hauke und Sophie – sich im nächsten Band nun kriegen oder doch nicht. Ich habe daraus geschlossen, dass ich die Herzensdinge in meinem Büchern nicht außer Acht lassen darf.
Gibt es schon etwas mehr von Ihrem nächsten Projekt über die respektlose 70jährige Lizzi, das Sie verraten können?
Oma Lizzi könnte mit Luna verwandt sein. Ist sie aber nicht, denn Oma Lizzi lebt in Hamburg und hat ein mächtiges Problem: Mit der Beute des Bankraubs ihres verstorbenen Mannes bezahlt die ehemalige Schlachtereiverkäuferin Lizzi heute die Miete in einer piekfeinen Seniorenresidenz an der Elbe. Doch der Schwindel fliegt auf und Oma Lizzi droht der Prozess. Dass das Geld dann auch noch aus ihrem Appartement geklaut wird und sie wohl bald obdachlos sein wird, macht die Sache nicht einfacher. Oma Lizzi muss Geld verdienen. Was liegt für eine Frau wie sie da näher, als eine Detektei zu gründen? Einen ersten Klienten hat sie auch schon. Für ihn soll Oma Lizzi einen verschwundenen Hamburger Politiker suchen.
Das Manuskript um Oma Lizzi ist fertig, und erste Gespräche mit Verlagen und Agenten laufen bereits. Wann Oma Lizzi beim Leser sein wird, weiß ich aber noch nicht.
Was ich aber schon versprechen kann: Im Frühjahr 2014 kommt mein nächster Englandkrimi „London Calling“ bei Goldfinch heraus. Kate und Luna finden einen toten Investmentbanker in seiner Wohnung, der Luna viel Geld schuldet. Luna ist Verdächtige No 1. Sie taucht unter und beginnt mit ihrer Freundin den wahren Mörder zu suchen. Leider aber sind die Gegner sehr viel mächtiger, als die beiden Frauen es sich gedacht haben. Es geht hier um das große Geld und die ganz große Politik.
Was am 19. Jahrhundert fasziniert Sie so sehr, dass Sie Ihre Romane in dieser Zeit spielen lassen?
Das 19. Jahrhundert ist farbenprächtig, aufregend, hintergründig, intellektuell, provokant, romantisch, …. Denkt man an die politischen Umbrüche der Zeit, national wie international, dann stecken allein darin tausend Geschichten, die erzählt werden müssen. Denken wir an die Rolle der Frauen und ihre grundlegende Neudefinierung in der damaligen Zeit! Die Revolution im Kopf der Menschen und in ihrem Leben, ausgelöst von Erfindungen wie Telefonen, Dampfmaschinen, Kühlschränken, Eisenbahn, elektrischem Licht …. Enorm!
Anders als das Mittelalter, welches ja nun so ziemlich jeder Leser in und auswendig kennen dürfte, ist das 19. Jahrhundert von Agenten und Verlagen bisher nicht als Markt erkannt worden. Dabei gibt es schon jetzt sehr gute Bücher aller Couleur zum 19. Jahrhundert. Aber, leider zu wenig. Der Dryas Verlag in Frankfurt wird demnächst eine Anthologie mit Kurzgeschichten über das 19. Jahrhundert unter der Leitung der bekannten Autorin Ulrike Bliefert herausbringen. (Klar, ich mache da auch mit!) Ich denke, Bücher dieser Art können den Lesern das 19. Jahrhundert schmackhaft machen. Und vielleicht, ja, vielleicht, wacht die große Verlags- und Buchszene dann auf und sieht, welch besonderer Schatz vor ihrer Haustür liegt. Dann wird für den Buchmarkt das 19. Jahrhundert das, was das Mittelalter einmal war: Eine Lizenz zum Gelddrucken!
Was für Projekte haben Sie als nächstes geplant, auf die sich ihre Leser freuen dürfen?
Well, natürlich „London Calling“ im Frühjahr. Und weil ich die Leser schon beim Recherchieren und Schreiben von „London Calling“ bei mir haben möchte – ich sprach ja schon von der Einsamkeit am Autorenschreibtisch -, habe ich mir etwas überlegt. Ich werde im Juli für einige Tage nach London zwecks Recherche reisen. Da gibt es ein Interview mit einem echten DI (Detective Inspector) des Morddezernats, ein Besuch in einem der ältesten Herrenclubs der Stadt, wo Frauen eigentlich nicht hinein dürfen, eine Sonnenaufgangstaxifahrt von der City zum Hampstead Heath, usw. usw. usw. Und bei all dem können die Leser via Facebook, Youtube und Internet dabei sein. Und sollte jemand gerade in London sein und mich treffen: Sprechen Sie mich an, ich gebe einen Drink im nächsten Pub aus.
Das ist mal ein Wort. 🙂
„Das Geheimnis der Lady Audley“ von Mary Elizabeth Braddon wurde von Ihnen übersetzt und bearbeitet. Wie sind Sie dabei vorgegangen und weshalb fiel Ihre Entscheidung auf gerade dieses Buch?
Ich bin ja nun keine „richtige“ Übersetzerin. Das muss ich gleich voranstellen. Ich bin eine Autorin und Leserin, die die Chance hatte, einen englischen Krimiklassiker der ersten Stunde (1861!) in die Hände zu bekommen. Ich wurde gefragt, ob ich mir vorstellen kann, dass man aus diesem – mit Verlaub – staubigem Text etwas für heutige Leser machen könnte. Meine spontane Antwort lautete: Aber natürlich!
Es ist alles drinnen, was das geneigte Krimileserherz begehrt: ein Geheimnis, eine schöne Frau, ein interessanter Mann, eine aufregende Kulisse, kleine Gangster und große Gefühle.
Da aber die Lesegewohnheiten heute ganz andere sind als sie damals waren, musste ich den Text drastisch bearbeiten. So wurden aus fast 600 Seiten etwas mehr als 300 Seiten. Ziel war es, die Romantik, die Atmosphäre der Zeit und auch die Rolle von Mann und Frau, ja sogar den sehr eigenen Witz des Textes zu erhalten. Andererseits jedoch, triefenden Kitsch – wie wir heute sagen würden – zu vermeiden und stattdessen sich auf den hoch psychologischen Fall um Lady Audley herum zu konzentrieren. Heutige Leser wollen schnelle Handlung und weniger langatmige Beschreibungen von Wald und Flur. Mitte des 19. Jahrhunderts jedoch war es nötig so zu schreiben, denn TV gab es 1861 nicht. Wenn ich heute sage: Stellen Sie sich ein englisches Herrenhaus auf dem Land vor, entsteht in Ihrem Kopf – u. a. dank TV – ein Bild. Damals hingegen musste jede Einzelheit des Hauses beschrieben werden. Seitenweise. Diese Gratwanderung galt es bei der Überarbeitung von „Lady Audleys Secret“ zu meistern. Ich bin gespannt, ob ich dieses Ziel erreicht habe. Es ist ein Experiment mit offenem Ausgang.
Was hat Ihnen an Ihren bisherigen Romanprojekten am meisten Spaß gemacht?
Alles! Eine Geschichte ausdenken, … zu sehen, wie aus kleinen Gedankenfetzen eine komplexe Geschichte wird, … toll.
Dann das Schreiben! Bei „Das Erbe von Tanston Hall“ konnte ich in Erinnerungen schwelgen, aus meiner Zeit, als ich in Cornwall war. Und ich habe mit Luna absichtlich eine Frau kreiert, die so gar nicht in diese Pilcherkulisse passt. „Das Erbe von Tanston Hall“ klingt nach Kuschelklassiker, hat aber hier und da punkige Züge. Und gerade die haben mir viel Spaß gemacht. Ich schreibe immer gerne ein klein wenig neben dem Mainstream.
Welches Cover wollen wir nehmen? – Hier lasse ich übrigens gerne von meinen Lesern abstimmen. Das Cover für „Das Geheimnis der Lady Audley“ ist auf Wunsch der Facebookgemeinde ausgewählt worden, und ich denke, es ist eine sehr gute Wahl!
Dann die Veröffentlichung und die ersten Lesungen! Zum ersten Mal sitzen Menschen vor mir, für die ich das Buch geschrieben habe. SIE sind jene, für die ich ein halbes Jahr und länger im Ausnahmezustand lebte. An ihrem Urteil liegt mir viel.
Doch schon ist wieder die nächste Idee im Kopf und alles beginnt von vorn.
Derzeit habe ich neben „London Calling“ und „Lizzi“ noch einen historischen Auswandererroman, einen Kreuzfahrtkrimi auf der Queen Mary, zwei Novellen und eine Erzählung im Kopf. Und es werden täglich mehr Ideen.
Möchten Sie Ihren Lesern noch etwas mitteilen?
Seid anspruchsvoll! Sucht auch die „message“ zwischen den Zeilen. Ein guter Autor hat dort einiges für euch versteckt.
Vielen Dank!
Gern geschehen.