Kompakt

Geldgierige Pharmaindustrie, korrupte Ärzte, überforderte Eltern – sie alle tragen ihre Belange auf dem Rücken der Kinder aus. Doch die beiden Autorinnen machen klar: Das, woran es am meisten krankt, ist unsere Gesellschaft, die es zu ändern gilt.

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Beate Frenkel, Astrid Randerath – Die Kinderkrankmacher
Autor Beate Frenkel, Astrid Randerath
Verlag Herder
Erschienen März 2015
ISBN 978-3-451-31198-7
Seitenanzahl 272 Seiten

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Inhalt

Kind-Sein ist kein Zuckerschlecken: Der Zappelphilipp leidet heutzutage an ADHS, verträumte Kinder an ADS, für ihr Alter zu kleine Kinder brauchen eine Hormontherapie und und und … Überall wo es geht soll der Nachwuchs optimiert werden. Denn für die perfekte Familie braucht es einen ebenso perfekten Sprössling, der sich an die Erwachsenen anzupassen weiß. Diesen gesellschaftlichen Druck nutzt die Pharmaindustrie durch zahlreiche Medikamente und Krankheitsbilder aus, die die Kindheit pathologisieren.

Anhand von Interviews mit Branchen-Insidern, Betroffenen und zahlreichen Studien schildern die Autorinnen die Lage von beiden Seiten. Dazu gliedern sie ihre Ausführungen in fünf Schwerpunkte:

1. Kinder dürfen nicht mehr Kinder sein
2. Pillen für den Zappelphilipp, Kohle für die Pharmaindustrie – die unglaubliche Karriere einer Verhaltensstörung
3. Nur für Erwachsene?! – alte Pillen, neue Kinderkrankheiten
4. Spieglein, Spieglein an der Wand – Schönheitswahn und Perfektion
5. Die Kinderstarkmacher

Stil und Verständnis

Die 2014 veröffentlichte KiGGS-Studie des Berliner Robert-Koch-Instituts präsentiert ein alarmierendes Ergebnis: Bei jedem fünften Kind zwischen 3 und 17 Jahren wurden Hinweise auf eine psychische Störung festgestellt – Depressionen, ADS, ADHS, Autismus-Spektrum-Störung, Tourette- oder Aspergersyndrom. Welches Verhalten ist für ein Kind überhaupt noch erlaubt, regelkonform und ’normal‘? Das ist die große Frage, das Phänomen „Kindheit“ gehört zu einem der meist diskutierten Themen heutzutage. Und obwohl unsere Gesellschaft das Ausleben von Freiheit in allen Belangen propagiert, herrscht große Unsicherheit darüber, wie Erziehung richtig funktioniert. Denn letzteres ist am wichtigsten: Funktionieren.

Optimierung und Kontrolle durchziehen nicht nur das Arbeitsleben der Erwachsenen, sondern bereits die Kita, die Grundschule und jede weitere Ausbildung. Die Schule ist eine Gefahrenzone, ein Ort, wo Leistung erbracht werden muss, wo Druck herrscht – und damit auch permanent die Angst zu versagen. Die Eltern fürchten sich, dass aus ihren Kindern einmal nichts wird (sie sollen es ja besser haben) und die Kinder wollen die Erwartungen ihrer Eltern nicht enttäuschen. Doch damit begeben sie sich nur in einen Teufelskreis, der ausgenutzt werden kann. Am Beispiel von ADHS zeigen Beate Frenkel und Astrid Randerath wie dieser aussieht:

„Die Wissenschaftler, die ihr Geld und ihre Reputation mit der Erforschung von ADHS verdienen, beraten die Lehrer. Die Lehrer verlassen sich auf die Ärzte. Wenn sie vom Fachmann hören, dass gegen das auffällige Verhalten vielleicht ein Medikament helfe, beraten sie dementsprechend die Eltern. Und „helfen“ der Pharmaindustrie in diesem Augenblick – ohne es zu wissen – womöglich, ihren Kundenstamm zu erweitern. Denn wenn die Eltern dem Rat folgen und zum Arzt gehen, dann lautet die Diagnose, wie wir gehört haben, immer häufiger: ADHS. Und auf dem Rezeptblock steht immer häufiger ein Medikament dagegen.“ (S.108) Dieses Zitat illustriert anschaulich, worum es den beiden Autorinnen geht. Nämlich aufzuzeigen, wie sehr jeder von uns in den gesellschaftlichen Erwartungshaltungen gefangen ist, und wie notwendig es ist, aus diesen auszubrechen.

Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, liefern Beate Frenkel und Astrid Randerath eine stringente Argumentation. Kapitel 1 bis 3 von „Die Kinderkrankmacher“ bieten einen roten Faden, der sich um die Themen AD(H)S, Depressionen, Schule dreht. Kapitel 4 erweitert den Bereich Pharmaindustrie um die Aspekte Schlankheits- und Schönheitswahn: Jugendliche, die Fotos ihrer Hüftknochen auf Facebook posten, um ihre Schlankheit zu demonstrieren, die abstruse Größenpolitik von Abercrombie&Fitch, die sogar Victoria Beckhams Hüftumfang als dick darstellt, und die ‚Pille‘ als Anti-Pickel-Maßnahme für schöne Haut. All das sind ebenso spannende wie wichtige Punkte, die jedoch im Vergleich zu den vorherigen Ausführungen (die bereits 2/3 der Seitenzahl einnehmen) unrund wirken, weil sie mehrere Themenfelder vermischen und – im Vergleich – kurz und knapp behandeln. Das Ende bildet die Nennung positiver Beispiele, wie z. B. Rechtsanwalt Jürgen Peters, der Schülern mit Impro-Theater hilft, oder eine Schwedter Tagesgruppe, die Kinder mit Verhaltensstörungen intensiv betreut.

Natürlich greift „Die Kinderkrankmacher“ vorherrschende Vorurteile gegen die Pharmaindustrie, Ärzte und Eltern auf. Doch als populärwissenschaftliches Buch, das sich an eine breite Masse richten möchte – an alle, die mit Kindern zu tun haben! – braucht es einen gewissen Druck, um Aufmerksamkeit zu erregen. Beate Frenkel und Astrid Randerath rütteln auf, lassen staunen, machen ärgerlich und wecken damit vor allem den Wunsch zu handeln und zu helfen. Schließlich geht es hier um unser aller Zukunft, die auf dem Spiel steht, und das machen sie eindringlich klar. Ihre nachvollziehbare Strukturierung, die nicht in den Fachjargon abdriftende Sprache und das spürbare Engagement zeichnen sich deutlich ab. „Die Kinderkrankmacher“ ist keine leichte Lektüre, da durch sie das (Nach-)Denken unweigerlich in Bewegung gerät, aber eine notwendige.

Aufmachung

Das orangefarbene Hardcover besitzt einen in weiß gehaltenen Schutzumschlag. Das Covermotiv zeigt bunte Pillen, deren Farbenpracht von dem kritisch-aufrüttelnden Klappentext relativiert wird. Auf der vorderen Umschlagklappe befindet sich ein weiterer Einführungstext, auf der hinteren die Vita zu den beiden Verfasserinnen sowie ihrer Co-Autorin.

Der Inhalt gliedert sich in fünf Kapitel, die jeweils drei bis sieben Unterthemen besitzen. Ihnen ist ein Vorwort sowie ein Inhaltsverzeichnis vorangestellt ist. Letzteres liefert einen guten, überblicksartigen Einstieg in das Buch und sorgt durch seine ausführliche Stichwort-Aufzeichnung für Orientierung. Eine Danksagung und die Anmerkungen mit den Fußnoten bilden den Abschluss.

Ähnliche Titel

„Burnout-Kids: Wie das Prinzip Leistung unsere Kinder überfordert“ (Michael Schulte-Markwort – Sachbuch); „Die Krankheitserfinder: Wie wir zu Patienten gemacht werden“ (Jörg Blech – Sachbuch); „Die Kindheit ist unantastbar: Warum Eltern ihr Recht auf Erziehung zurückfordern müssen“ (Herbert Renz-Polster – Sachbuch)

Herzlichen Dank an den Herder-Verlag für das Rezensionsexemplar.

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