D.E. Meredith ist die Autorin der hoch gelobten Serie um Professor Adolphus Hatton und seinen Freund und Assistenten in der Leichenhalle, Albert Roumande.

(Foto: Copyright Trevor Leighton)

Danke, dass Sie sich die Zeit für das Interview nehmen.
Ihre Serie beginnt im viktorianischen England. Warum haben Sie gerade diese Zeit und diesen Ort gewählt?

„Der Leichensammler“ (Devoured) spielt kurz vor der Veröffentlichung von Darwins „Die Entstehung der Arten“ (The Origin of Species, 1859). Das viktorianische Zeitalter war eine Zeit von enormen ökonomischen Veränderungen und riesigen gesellschaftlichen Umwälzungen, aber es gab auch einen Durst nach Wissen, sowie Innovation und Wagemut.

London war die größte Stadt der Erde, während das sich ausbreitende Empire von England die Welt beherrschte. Schienen durchzogen das Land, die Bildungsrate stieg, die Mittelklasse blühte mit neuen Ideen über Politik, Regierung und Moral auf. Die christliche Kirche befand sich in einer Krise. Währenddessen schrieb Marx „Das Kapitel“ im britischen Museum, als Blaustrümpfe begannen, mehr Rechte für Frauen und das universelle Wahlrecht forderten.

Während all dessen war das Leben für die Armen aber auch hässlich, brutal und kurz mit seinen Slums, Hundekämpfen, Faustkämpfen, Laudanumabhängigkeit und der hohen Kindersterblichkeitsrate. Die durchschnittliche Lebenserwartung einer Frau, die in London lebte, betrug nur 32 Jahre. Es gab unzählige tödliche Krankheiten, mit denen die viktorianische Medizin kämpfen musste, geschweige denn sie zu heilen verstand – Pocken, Scharlach, Syphilis und Cholera.

Stellen Sie sich einfach den Film „Slumdog Millionaire“ mit Zylindern vor und Sie sind gar nicht so weit entfernt davon.

Welcher Autor könnte einem solch dramatischen Handlungsort für einen Krimi widerstehen? All diese kurvigen Durchgänge und dunklen Gassen – und vergessen Sie mir nicht die Erbsensuppe (Nebel!), der der perfekte Platz ist, um eine Leiche zu verstecken.

Was genau fasziniert Sie an der Forensik und dem Beginn der wissenschaftlichen Weltsicht?

Dass sie neu, innovativ und auf Versuchen aufgebaut war.

Das Verständnis der viktorianischen Wissenschaftler darüber, wie der Körper arbeitet – wie er verwest, wie er sich nach dem Tod verändert – war auf dem Vormarsch, aber sie wussten bei weitem nicht, wie alles funktionierte. Obwohl eine große Bandbreite an wissenschaftlichen Fortschritten in den Schlüsselfeldern der Chemie, Physik und Mathematik gemacht wurden, befanden sich viele Methoden immer noch außerhalb ihrer Reichweite.

Allerdings entdeckten die Viktorianer eine ganze Reihe von Dingen, die von den frühen Forensikern genutzt werden konnten.

Beispielsweise entdeckte im Jahr 1839 der britische Chemiker John March einen neuen Weg, winzige Mengen von Gift im menschlichen Gewebe zu erkennen (bekannt als der Marsh-Test, der heute immer noch angewandt wird). Währenddessen wurde das Quecksilberthermometer zum ersten Mal von Dr. John Davy an toten Soldaten benutzt, um den Todeszeitpunkt festzustellen. Das trockene Gelatineverfahren bei der Fotographie wurde 1854 erfunden und rasch abgewandelt für eine Reihe von Gefängnissen, um die so genannten kriminellen Klassen zu kategorisieren und zu studieren. Zugleich begann im kolonialen Indien Sir William Herschel Fingerabdrucktechniken zu entwickeln, um Dokumente zu verifizieren, die als Ersatz für die geschriebene Signatur galten, und um den Überblick über seine meist analphabetischen Arbeiter zu behalten.

In Deutschland führte die Manufaktur von leistungsstarken neuen Mikroskopen, hergestellt von Firmen wie Zeiss, zu einem besseren Verständnis von molekularen Strukturen.

Es gab auch viele neue Entdeckungen, die auf dem medizinischen Feld stattfanden, wie die Identifizierung von „Tardieu Flecken“ – Blutungen, die beim Erstickungstod auftreten – und die Anfänge von nutzbaren Bluttests um das Jahr 1860 herum, die als forensische Proben an Tatorten genommen werden konnten.

Anders gesagt: Die Methoden, Werkzeuge und Techniken waren endlich angekommen. Durch sorgfältige Beobachtung, wissenschaftliches Wissen und technisches Know-How konnte eine Leiche sein eigener „stiller Zeuge“ sein. Und hier, an diesem spannenden Moment der Erkenntnis, beginnt mein Roman „Der Leichensammler“.

Ihr eigenes Leben war sehr aufregend – Werbung, Beratung und das Führen von Wahlkampagnen in sehr gefährlichen Plätzen überall auf der Welt. Wie hat Ihnen das bei Ihrer Schriftstellerkarriere geholfen?

Da ich in Ruanda, Bosnien etc. während der Hochzeiten ihrer Konflikte gearbeitet habe, ist mein Kopf vermutlich voller seltsamer Bilder. Ich kenne den Tod, den Schmerz und Heldentaten genauso wie Elend, und ich versuche einige dieser Erfahrungen in die Bücher fließen zu lassen. Besonders in „The Devil’s Ribbon“, dem zweiten Band meiner Reihe, gibt es eine Bombenszene, die auf meinen Erlebnissen in Kabul basiert. Ich hatte das Pech, dass ich in einen Beschuss geriet, kurz bevor die Stadt den Taliban in die Hände fiel. Wenn man extreme Momente in seinem Leben hat, neigt man als Autor dazu, von ihnen zu zehren. Es ist Teil des Prozesses, die Imagination fließen zu lassen und in die Ecken des eigenen Gedächtnisses und Geistes vorzustoßen – ein notwendiges Werkzeug beim Schreiben von Fiktion.

Viktorianische oder historische Kriminalromane waren in den letzten Jahren sehr gefragt. Haben Sie geplant, in diesem Genre zu schreiben oder fiel Ihnen das einfach zu?

Ich habe nie etwas derartiges geplant. Ich wollte nie Autor werden. Es war alles sehr spontan, aber jetzt kann ich mir nicht vorstellen, etwas anderes zu tun.

Ich habe ein Buch von einem Naturalisten des 19. Jahrhunderts gelesen, der nach Borneo reiste, um Schmetterlinge und Tiere zu sammeln. Dieses Reisejournal inspirierte mich mit seinen Geschichten von Affenjagden, Paradiesvögeln und von der Malaria hervorgerufene Visionen. Als ich von seiner epischen Reise las, während der er in den 1850ern Flora und Fauna klassifizierte, war ich regelrecht von den Socken und fühlte mich dazu gezwungen, eine Geschichte zu schreiben.

„Der Malayische Archipel“ (The Malay Archipelago) von Alfred Russel Wallace befeuerte meine Vorstellungskraft so sehr, dass ich statt meiner normalen Arbeit (ich sollte ein neues Projekt für Greenpeace starten) feststellte, dass ich auf das Keyboard eintippte und den ersten Entwurf von „Der Leichensammler“ in einigen wenigen Monaten entwickelte. Und das eine führte einfach zum anderen.

Die Entdeckung der Welt der viktorianischen Naturalisten führte mich zu den Einstellungen zur Wissenschaft, die im 19. Jahrhundert herrschten, was mich wiederum zur Pathologie und dem Anbruch der Forensik führte. Diese Kette von verschiedenen Gedanken geschah in einer sehr kurzen Zeit und irgendwie hatte ich dabei den Anfang meiner forensischen „Detektive“, Professor Adolphus Hatton und seinem Assistenten in der Leichenhalle, dem tapferen Monsieur Albert Roumande, erschaffen.

Das Genre, in dem Sie schreiben, scheint für Sie perfekt zu sein. Wenn Sie in einem anderen schreiben müssten, welches würden Sie wählen und haben Sie Pläne, in eine andere Richtung zu schreiben?

Danke, dass Sie das sagen! Ich liebe es, über die Viktorianer zu schreiben – sie eignen sich für Übertreibungen, Komödien, Pathos und, natürlich, für viel Blut. Aber Schriftsteller fühlen sich immer zu Geschichten und Charakteren hingezogen, nicht nur zu historischen Momenten. Seit einiger Zeit arbeite ich an einem zeitgenössischen Kriminalroman, der in Ruanda spielt, und werde ihn hoffentlich bald beenden. Er spielt 1994 und heute. Ich liebe es, zeitgenössische Fiktion zu schreiben. Mir wird von denen gesagt, die einen frühen Entwurf gelesen haben, dass mein Schreibstil sehr anders ist. Viel rauer. Wir werden sehen.

Sie müssen für Ihre Romane sehr viel recherchiert haben. Wie sind Sie dabei vorgegangen und wie behalten Sie den Überblick bei all den Informationen?

Ich habe tonnenweise Recherche über die Zeitepoche betrieben, aber ich habe großes Glück, denn ich lebe kurz vor London in einem viktorianischen Haus, und die Stadt ist meine Hauptinspirationsquelle. Viel von London ist immer noch voll und ganz viktorianisch, besonders die Gegend um Smithfield, in der meine Romane spielen.

Ich habe eine große Anzahl von Büchern gelesen – auch einige, die zeigen, wie Wissenschaftler der Anatomie Körper und eingelegte Organe konservieren. Diese Menschen waren Künstler und zugleich brillante Wissenschaftler. Sie nahmen große persönliche Risiken auf sich, um Leichen zu bewahren, damit andere das studieren konnten, was sie als „morbide Kuriositäten“ bezeichneten. Manchmal wurden sie von den Dämpfen, die sie einatmeten, vergiftet, während sie versuchten, einen Augapfel oder die Nerven und Arterien eines Gesichts zu konservieren.

Ich habe ein extra Buchregal für all meine Bücher, die sich auf das viktorianische Zeitalter beziehen, mit vielen gekritzelten Notizen. Den Überblick über die Recherchen zu behalten ist kein Problem. Ein Alptraum ist viel eher die Handhabe meiner verdrehten und komplexen Handlungsstränge! Aber ich lerne schnell. Krimis zu schreiben dreht sich sehr darum, das Handwerk zu beherrschen.

War es schon immer geplant, eine Serie über Hatton und seinen Assistenten Roumande zu schreiben?

Nein, ich hatte nie Pläne, Autor zu werden oder eine Serie zu schreiben, wie ich schon sagte, aber ich liebe Hatton und Roumande. Sie wirken sehr real für mich, da ich nun seit fünf Jahren mit ihnen zusammenlebe. Im nächsten Teil der Reihe, „The Devil’s Ribbon“, lernt man mehr darüber, wer sie sind und was sie als Männer antreibt. Während sich ihre Freundschaft vertieft, treten ihre persönlichen Probleme und Sorgen mehr in den Vordergrund. Das Buch hat großartige Kritiken in den USA erhalten, so dass ich hoffe, dass Sie es auch bald in Deutschland lesen können – bisher habe ich dahingehend noch keine Neuigkeiten erhalten, aber ich drücke die Daumen. Diesen Februar wird es in Großbritannien erhältlich sein.

Es handelt von den Iren in London, zehn Jahre nach der Hungersnot und der frühen Republikanerbewegung. Es gibt einen verschwundenen Koch, einen Ausbruch der Cholera, mehr Leichen, einen Handlungsstrang mit einem Terroristen und Hatton verliebt sich in eine sehr verführerische Frau, deren Ehemann von Feniern (engl. fenian; Anhänger der irischen Unabhängigkeitsbewegung) ermordet wurde – den so genannten „Ribbonmen“. Daher auch der Titel!

Wer beeinflusst Sie? Welchen Autor bewundern Sie am meisten?

Hauptsächlich wurde ich definitiv von Conan Doyle beeinflusst. Bezüglich Schriftstellern, die ich bewundere, gibt es so viele, aber wenn ich mich wieder an meine Arbeit begebe, lese ich immer kleine Passagen von Dickens und Joseph Conrad. Was Schreibmethoden angeht, liebe ich Stephen King’s „Das Leben und das Schreiben“ (On Writing), und für zeitgenössische Brillanz greife ich immer nach David Mitchell, wenn ich nach Inspiration suche. Ich liebe sein „Die tausend Herbste des Jacob de Zoet“ (Thousand Autumns of Jacob De Zoet“.

Welche Romane liegen auf Ihrem Nachttisch und würden Sie empfehlen?

Ich würde „Florence and Giles“ von John Harding empfehlen, den ich vor kurzem gelesen habe. Es ist eine Überarbeitung von Henry James‘ „Das Durchdrehen der Schraube“ (The Turn of the Screw). Es besitzt im Kern eine wundervolle Idee und ist witzig, schockierend und zugleich auf brillante Art erfunden. Ich habe es geliebt.

Ein mehr lyrisches Vergnügen ist John Prestons Novelle „The Dig“. Sie spielt im Sommer 1939, kurz vor dem Ausbruch des Krieges, und handelt von einer Gruppe unterschiedlicher Leute, die zusammenkommen und in die archäologische Ausgrabung eines Wikingerschiffes bei Sutton Hoo involviert sind – Englands Entsprechung zu Tutanchamun. Es ist poetisch, nuanciert und sehr bewegend. Ein wundervolles, getragenes Stück, das den Leser wegen seiner Schönheit den Atem stocken lässt und vielleicht in Tränen ausbrechen lässt – nun, mich auf jeden Fall.

Vielen Dank für Ihre Zeit. Ich freue mich auf den nächsten Roman in Ihrer Reihe!