Kompakt

Ein Familienporträt, in dem Torten mehr sagen als tausend Worte. Umso stilsicherer ist die Autorin, wenn es darum geht, ihre Figuren zu beschreiben …

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Marianne Jungmaier – Das Tortenprotokoll
Autor Marianne Jungmaier
Verlag Kremayr & Scheriau
Erschienen August 2015
ISBN 978-3-218-00996-6
Seitenanzahl 208 Seiten

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Inhalt

Friederike kehrt nach Hause zurück, in das kleine österreichische Dorf, in dem sie ihre Kindheit verbracht hat – bis sie alt genug war, um 600 Kilometer Distanz zwischen sich und ihre Heimat zu bringen. Jetzt muss sie zur Beerdigung ihrer Großmutter, die plötzlich gestorben ist. Beim Durchgehen der Erbschaft schnappt sich Friederike das heiß begehrte „Tortenprotokoll“, ein blaues, speckiges Heft, in dem ihre Großmutter detailgetrau alle ihre Rezepte notierte. Darin findet sie die Liebesbriefe eines Unbekannten und begibt sich auf die Suche nach der Vergangenheit ihrer Großmutter …

Stil

Marianne Jungmaier lässt ihre Erzählerin Friederike aus der Ich-Perspektive berichten. Ihre Satzgebilde bestehen oftmals aus vielfachen, mit Kommata verbundenen Stücken, die anfangs ein wenig gewöhnungsbedürftig sind. Hat man sich aber an dieses Aneinanderreihungen herangetastet, erscheint ihr Stil nur logisch. In einer Familie, die nicht spricht, ist Friederike diejenige, die das extensiv macht – zumindest in Gedanken.

„Schweigen ist ein Talent in dieser Familie, von Generation zu Generation weitergegeben, es wird hier beherrscht wie nirgendwo sonst. (…) Um dieses Schweigen zu verstehen, brachte ich mir eine Kartografie bei, machte mir Landkarten und Pläne im Kopf, für Großmutter, Mutter und Vater, um Blicke, Handbewegungen und Körperhaltungen zu deuten.“ (S.47f)

Das Sprechen wird durch Essen ersetzt. Essen ist ein Weg, um zu zeigen, dass man sich kümmert. Ob aus Freude oder weil man muss, wird nicht klar. „Und immer gab es zu essen, was auf den Tisch kam. Torten waren das einzig Süße, das ihre Münder berührte. Was zwischen den Lippen herauskam, verwandelte sich von Belanglosigkeit in Gleichgültigkeit, Worte waren praktisches Werkzeug, um zu sagen: Jetzt habe ich dir eine Torte gebacken und du isst sie nicht, so als bedeute das Verweigern einer Süßspeise, dass man einander nicht liebte.“ (S.48)

Die Familie, die Marianne Jungmaier zeichnet, ist kalt und ihre Protagonistin Friederike geprägt von dem Gefühl, niemals gut genug zu sein. Dass dies seinen Ursprung in ihrer Verwandtschaft hat, wird erst später klar. Die Großmutter war stets Friederikes Rückzugsort, auch wenn sie oftmals genauso abweisend und unklar zu lesen war. Jetzt, als Erwachsene, beginnt Friederike zu begreifen, dass das vielleicht eine andere Art von Liebe war – indem ihre Großmutter ihr als einzige erlaubte, Kind sein zu dürfen.

Das Bild der Großmutter gerät durch die von ihr aufgefundenen Liebesbriefe jedoch ins Wanken. Plötzlich wird diese von der geschlechtslosen Omama und Witwe zu einer Frau mit Vergangenheit und einem Leben. Diese Briefe zeigen das Bild einer gänzlichen Anderen; einer, die Gefühle zeigt und äußert, sich aber nicht traute, dieses Glück zuzulassen. Als die Familie ebenfalls einen dieser Liebesbriefe entdeckt, reagieren sie mit Unverständnis und – wie anders – mit Schweigen. Jetzt, wo die Großmutter tot ist, ändert sich einzig für Friederike etwas. Sie gewinnt die Gewissheit, dass ihre Heimat nicht die ihres Herzens ist. Und dass diese Erkenntnis einem Verlust gleichkommt, einem Loslassen dessen, was sie lange geprägt hat, aber eine Konsequenz, die mit dem Tod der Großmutter einhergeht.

„Doch jetzt ist sie tot, die alles zusammengehalten hat mit ihren Torten, mit ihr ist das System zusammengefallen wie Eischnee. Die Süßwaren, mit denen man vorgeben konnte, dass alles harmlos sei, süß und in Ordnung, sind verschwunden. Das Verbliebene hält der Wahrheit nicht stand, egal, wie sehr sie schweigen. In Wahrheit ist das Gefühl in dieser Familie ein kleiner, harter Klumpen, von dem man Bauchschmerzen bekommt.“ (S.170)

„Das Tortenprotokoll“ ist aufgrund seiner Thematik keine ‚leichte‘ Lektüre. Marianne Jungmaier porträtiert in ihrem Romandebüt eine trostlose Familie in einem verlassenen Dorf, das durch die Flucht ihrer Protagonistin in die Großstadt umso trister erscheint. Nicht einmal ihre Jugendliebe kann und konnte sie hier halten. Die innere Zerrissenheit der Erzählerin spiegelt sich in ausgeklügelten Sätzen, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart pendeln und in Proust’scher Manier bestimmte Momente aufleben lassen. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen gibt es keinen richtigen Anfang und Abschluss des Buches. Der Leser steigt ein und fährt ein gemeinsames Stück des Weges mit Friederike – aber genau dieses kleine Stückchen ist es wert, als Begleitung zu verbringen.

Aufmachung

Das gelb-grau gestreifte Hardcover ist mit einem roten Lesebändchen ausgestattet und zeigt auf dem Schutzumschlag das namensspendende Tortenprotokoll. Auf der Rückseite befindet sich wie üblich der Klappentext.

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„Die Farbe des Herzens“ (Marianne Jungmauer – Intermediale Texte)

Herzlichen Dank an Kremayr & Scheriau für das Rezensionsexemplar.