Kompakt

Georg Hermann liefert nicht nur ein lebensnahes Porträt vom Biedermeierlichen Berlin, sondern auch ein tragisches Frauenschicksal, das empfindsam die Doppelmoral und Zerrissenheit der Gesellschaft widerspiegelt.

Bewertungwww.dyerware.comwww.dyerware.comwww.dyerware.comwww.dyerware.comwww.dyerware.com

Georg Hermann – Jettchen Gebert – Henriette Jacoby
Autor Georg Hermann
Verlag Elsengold
Erschienen März 2015
ISBN 978-3-944-59424-8
Seitenanzahl 624 Seiten

Inhalt

Berlin in den 1840er Jahren: Jettchen Gebert wächst bei ihrem Onkel Salomon, dem Kaufmann, und seiner Frau, Tante Rieckchen, auf. Das junge Mädchen ist mit Mitte zwanzig noch nicht den Bund der Ehe eingegangen, da ihren Verwandten kein Kandidat gut genug war. Als Jettchen Gefühle für den mittellosen Literaten Doktor Friedrich Kößling entwickelt, trifft ihre Wahl nicht auf die Zustimmung ihrer Familie. Diese möchte sie lieber mit dem Vetter Julius sehen, der zwar kein Feingeist ist, aber Unternehmer wie ihr Onkel …

Stil und Charaktere

Georg Hermann wurde 1871 in eine deutsch-jüdische Familie geboren und starb 1943 im KZ Auschwitz-Birkenau. Die beiden Romane „Jettchen Gebert“ und „Henriette Jacoby“ waren zu ihrer Veröffentlichung 1904 und 1906 Bestseller – mit mehr als 260 Auflagen. Beide haben das Berlin der 1840er Jahre als Schauplatz und fangen die zerrissene Stimmung des Biedermeier gelungen ein.

Das Biedermeier zählt zu der sogenannten Restaurationszeit. Diese Zeit der sozialen Umbrüche beginnt 1815 mit dem Ende der napoleonischen Herrschaft über Europa und schließt mit der Märzrevolution von 1848 ab. Die Pflege des heimischen Idyll steht in der Biedermeier-Strömung im Vordergrund: Politische Enttäuschungen und die zunehmende Industrialisierung prägen die Gesellschaft, die sich auf das – kontrollierbare – Leben in ihren eigenen vier Wänden und am Land konzentriert.

Die Menschen selbst sind zerrissen und wissen nicht so recht, wie und wo sie sich verorten sollen. Das zeigt sich auch an dem Liebespaar Jettchen und Kößling, als sie bei einem Spaziergang im Schloss Charlottenburg über ihre Gefühle und Zukunftspläne sprechen. Kößling leidet darunter, aus einer armen Familie zu stammen und sucht nach einer geeigneten Profession, die ihn intellektuell zufrieden stellt. Doch als Künstler – oder Mensch mit künstlerischen Ambitionen – gestaltet sich das schwer: „Ich glaube aber, daß man dumm sein muss, – wissen Sie, gedankenlos, um wirklich glücklich zu sein. Wir müssen uns einmal damit aussöhnen, daß das Leben eines jeden Menschen, der nicht mit den andern mitlaufen will, eine Tragödie ist.“ (S.159)

Auch Jettchen, die keinerlei finanzielle Not kennt, offenbart ihm ihre Seele, die nach Empathie und geistreichen Auseinandersetzungen dürstet. Diese befriedigt nur ihr Onkel Jason – das schwarze Schaf der Familie, das keinem rechten Beruf nachgeht, sondern in den Tag lebt –, der Jettchen unter ihren Verwandten der liebste ist. Doch das besondere an ihr ist der Mut, den sie jedes Mal aufbringt, um sich aus ihrer emotionalen Not zu retten: „Ich glaube, daß das Glück ein kleines, übersehenes Unkraut ist, wie die Vogelmiere, die überall am Wege wächst, und die sich jeder pflücken kann, er muß sich nur bücken. Ich glaube, Herr Doktor, daß Glück und Unglück keine Schicksale, sondern Gemütsarten sind.“ (S.160) Diese Zuversicht in die eigene Lebensgestaltung schwindet jedoch, je mehr Vetter Julius auftaucht …

Wer sich an die beiden Berlin-Romane heranwagt, braucht ein wenig Geduld. Georg Hermann schmückt seine erzählten Szenen zeittypisch detailreich aus, verbleibt lange bei einzelnen Begegnungen und lässt seine Figuren intensiv ihr Innenleben schildern. Dies erinnert an den Sturm und Drang’schen „Werther“ (und die berühmte Klopstock-Szene), besitzt aber auch Anklänge an Laurence Sternes „A sentimental journey“. Die Leser haben teil an den seelischen Empfindungen und den sinnlichen Eindrücken, die den Protagonisten begegnen, und tauchen tief in ihre Weltsicht ein.

Der Autor schreibt stets aus der 3. Person und übt sich stellenweise in Vorausdeutungen, da er als allwissender Erzähler natürlich weiß, wohin Jettchen ihr Schicksal führen wird. Im Prolog beschreibt Hermann, dass er diese Geschichte um ihrer selbst willen erzählt, da sie zu wertvoll ist, um in Vergessenheit zu geraten: „Man lasse mich hier eine Geschichte erzählen, einfach deshalb, weil es mich gelüstet, es zu tun. Aus keinem Grund sonst. Ich will mich ganz ihr verplaudern, mich darin einspinnen wie der Seidenwurm in seine eigenen Fäden.“ (S.9)

Der Klappentext verrät leider ein wenig zu viel (Stichwort „tragisches Ende“), denn anfangs scheint es noch möglich, dass Jettchen und Kößling auf ein Happy End zusteuern. Die negative Charakterisierung und das verschwörerische Getue von Tante Rieckchen lassen diese Hoffnung jedoch schnell schwinden. An ihre Stelle tritt eine andere Leserfahrung; jetzt, wo man weiß, was Jettchen erwartet, treten die kleinen Andeutungen, die punktuellen Weichenstellungen, in den Vordergrund. Aber nicht nur sie sind spannend zu beobachten, auch die Abbildung der Gesellschaft, ihrer Regeln und Regulierungen, wirkt aus heutiger Perspektive lebensnah. Die Doppelmoral zwischen Sein und Schein, die emotionale und berufliche Zerrissenheit in einer Zeit der Umbrüche und die Grenzen eines selbstbestimmten Lebens – all das sind durchaus moderne Fragestellungen.

Wenn man sich an die langsame Erzählweise gewöhnt hat – und die Tanten und Onkel in die richtige verwandtschaftliche Beziehung setzen konnte –, entführt einen Georg Hermann in ein idyllisches Berlin, das vorrangig die Gegend um das heutige Nikolaiviertel zum Schauplatz hat. Für Kenner bietet das einen Ausflug in die Zeit, als Charlottenburg noch eine eigenständige Stadt war, und Berlin-Unkundige erleben eine historische Stadtführung der literarischen Art.

Aufmachung

Das stabile Hardcover mit orangenem Rücken zeigt auf der Vorderseite Prinzessin Augusta von Preußen – gezeichnet von Karl Begas, auf der Rückseite befindet sich ein kurzer Klappentext. Im Vorsatz und Nachsatz wird ein Grundriss von Berlin 1838/40 abgebildet. Wenn dieser als größere Karte noch beigelegen hätte, wäre das toll gewesen …

Die beiden Romane umfassen jeweils rund 300 Seiten und sind mit einem Vorwort des Autors ausgestattet. Den Abschluss bildet ein Nachwort von Regina Stürickow.

Ähnliche Titel

„Das Haus in der Landskrongasse“ (Rosa Mayreder – Sachbuch); „Ellen Olestjerne“ (Franziska von Reventlow – Roman); „Fanny Roth“ (Grete Meisel-Hess – Roman); „Die Leiden des jungen Werther“ (Johann Wolfgang von Goethe – Roman)

Herzlichen Dank an den Elsengold-Verlag für das Rezensionsexemplar.

„Jettchen Gebert / Henriette Jacoby“ bei Amazon kaufen.